Zerstörung der Synagoge Böhl am 10. November 1938
Rede zum Gedenken an die Reichsprogromnacht 1938 an der Stätte der ehemaligen Synagoge Böhl von Pfarrer Dr. Boris Wagner-Peterson am 10.11.2017 um 18 Uhr:
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
wieder versammeln wir uns am ehem. Standort der Böhler Synagoge.
Wieder stehen wir hier, weil dieses Gebäude, in dem sich Menschen zu regelmäßigen Gebeten und Gottesdiensten versammelt hatten, nicht mehr da ist.
Wieder wollen wir daran denken, was Menschen von hier ihren Mitbürgern anderen Glaubens
angetan haben, damals vor 79 Jahren in der sog. „Reichskristallnacht“,
die heute als „Reichsprogromnacht“ bezeichnet wird.
Was vor 79 Jahren in dieser Nacht geschah, ist heute Teil der Vergangenheit, denn die Zeitzeugen sind zum größten Teil nicht mehr unter uns, weder die Täter noch die Opfer von damals.
Was leider nicht zur Vergangenheit geworden ist, sind die Motive und Handlungsweisen, die zu den Ereignissen damals geführt haben:
– Menschen halten sich an Vorurteile
– Menschen verachten Menschen
– Menschen verletzten Menschen
– Menschen verfolgen Menschen
– Menschen töten Menschen
allein deshalb,
weil sie anders aussehen,
anders denken,
anders handeln,
anders glauben.
Auch in diesem Jahr wurden aus diesem Grund
– Kirchen im Nahen Osten angezündet
– Moscheen in Asien in Myanmar zerstört
– ehem. Synagogen geschändet in Europa.
Offenbar lernen die Menschen nicht einfach aus der Geschichte.
Offenbar halten die Nachgeborenen sich immer für klüger und machen doch dieselben Fehler.
Was tun dagegen?
Es gibt keinen dauerhaften Schutz vor menschlicher Überheblichkeit und Hass gegen Andere.
Das Einzige, was man tun kann, ist nicht zu resignieren, nicht zu sagen
„das ist halt so und man kann es eh‘ nicht ändern“.
Das, was man tun kann, ist
– aufmerksam sein, was sich um uns herum abspielt zwischen Menschen
– hinweisen auf die möglichen Folgen von vereinfachenden Antworten
– erinnern an Ereignisse, die drastisch vor Augen führen, wozu Menschen in der Lage sind.
Mit dieser Absicht sind wir auch heute hier am ehem. Standort der Böhler Synagoge.
Wir denken daran, was Menschen anderen Menschen hier angetan haben,
und verschweigen nicht, wie groß das Versagen derer war, die damals weggeschaut haben.
Aber wir müssen auch uns fragen:
Wo schauen wir weg?
Wo schweigen wir lieber?
Wo urteilen wir über Menschen, ohne sie wirklich kennen und verstehen zu wollen?
Ja, es ist schwer, aus der Geschichte zu lernen.
Wir stehen hier, weil wir es trotzdem versuchen wollen.
Wir stehen hier, weil wir nicht wollen, dass Menschenverachtung siegt,
weil wir nicht wollen, dass Hass und die Gewalt sich ausbreiten,
sondern dass Toleranz und Mitmenschlichkeit stärker bleiben.
Aber damit Toleranz und Mitmenschlichkeit stärker werden, müssen wir bei uns selbst anfangen.
In diesem Sinne möchte ich schließen mit Worten eines Menschen, der weder Jude noch Christ noch Atheist war.
Wir hören Worte des chinesischen Weisen Lao-Tse:
"Damit es Frieden in der Welt gibt,
müssen die Völker in Frieden leben.
Damit es Frieden zwischen den Völkern gibt,
dürfen sich die Städte nicht gegeneinander erheben.
Damit es Frieden in den Städten gibt,
müssen sich die Nachbarn verstehen.
Damit es Frieden zwischen Nachbarn gibt,
muss im eigenen Haus Frieden herrschen.
Damit im Haus Frieden herrscht,
muss man ihn im eigenen Herzen finden."
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!